- Große Höhen (3.000m - 4.500m)
- Sehr große Höhen (4.500m - 6000m)
- Extreme Höhen (6.000m - 7.000m)
- Todeszone (>7000m)
Ab der kritischen Höhe von 5.300 Meter baut der Körper physisch und psychisch ab - ein Daueraufenthalt ist unmöglich. Einen wirklich großen Berg zu besteigen, ist nicht nur Schinderei. Es setzt auch jede Menge geistiger Reife voraus. Ich fühle mich bereit.
Tag 1: Miguel (mein Guide) und ich fahren mit dem Geländewagen zum Basislager. Majestätisch, das Antlitz des Huayna Potosi. Was für eine Wucht von einem Berg.
Huayna Potosi (6.088m) |
Friedhof der Minenarbeiter. Die Arbeitsbedingungen in Bolivien haben sich seit der Kolonialzeit kaum verändert. Seit Jahren gibt es regelmäßige Streiks. In meinen zwei Wochen in La Paz konnte niemand ein- und ausreisen. Mit Dynamit blockieren die Arbeiter die Straßen. Es ist die einzige Möglichkeit für sie, auf sich aufmerksam zu machen. 2 Menschen sterben.
Mit einem Toyota Landcruiser fahren wir bis zum Basislager vor.
Basislager (4.720m) |
Nach dem Mittagessen wollen wir am unteren Gletscherrand für den Nachtaufstieg üben.
Ich versuche mich gleich an einer senkrechten 90°-Wand.
Am Abend erzählt mir Miguel stolz von seinen früheren Frauengeschichten in Ecuador. "Dort sind die schönsten Frauen der Welt." Ecuador? Da musste ich ihm widersprechen.
Tag 2: Mit 16 kg Ausrüstung am Rücken steigen wir 550 Höhenmeter die Felsen empor zu Lager 2 (5.270m). Miguel läuft hinauf als ob er das jeden Tag machen würde (Er macht es auch jeden Tag). Ich komme mir so langsam vor, und brauche viele Pausen um meine Atmung zu regulieren. Normale Gehzeit: 3 Stunden. Wir brauchen dann doch nur 1 Stunde und 50 min. Hoffentlich habe ich nicht zu viel Energie für morgen verschwendet...
Oben angekommen, frage ich Miguel: "Gibt es Tee?" - "Ja", antwortet er und geht hinaus, kommt mit einem Eimer Schnee zurück und kocht ihn.
Den ganzen Nachmittag habe ich frei. Ich mache noch einen Spaziergang durch den Schnee bis auf 5.350 Meter. Ganz nach dem Motto: höher steigen - tiefer schlafen.
Jetzt bemerke ich, dass mir unterwegs meine Handschuhe aus der Jackentasche gefallen sind. Was für ein Dilemma! Ohne Handschuhe - kein Aufstieg! Etwas später kommt ein Schweizer an unserem Lager vorbei. Er kommt gerade vom Gipfel. Ich habe diesen Menschen noch nie zuvor gesehen. Ohne zu überlegen, gibt er mir seine, und fügt hinzu: "Dafür schuldest Du mir aber eine Linzer-Torte!" Wo Mensch und Berg sich begegnen, ereignen sich große Dinge, die sich im Gedränge der Straßen nicht verwirklichen lassen.
Lager 3 (5.300m) |
Da geht es morgen nachts hinauf!
Ein Bergsteiger verewigte sich im Basislager mit einem Schriftzug an der Wand: "Ich habe es nicht auf den Gipfel geschafft. Aber ich machte einen Schneemann auf 5.800 Meter."
Schneemann |
Tag 2-3:
18.00: Abendessen
19.00: Bettruhe
24.00: Wecker läutet
01.00: Aufstieg
Ich kann nicht schlafen. Muss ständig an diesen Berg denken. Ruhe jetzt! Versuche zu schlafen! Ich drehe mich im Schlafsack um - und komme dabei völlig außer Atem. 10 Minuten brauche ich bis mein Herz wieder normal schlägt. Dann kommen auch die Gedanken wieder... Eine Prozessschleife, die sich bis Mitternacht wiederholt.
Keine Minute geschlafen. Und 3x musste ich "für kleine Jungs". Wie soll ich so bloß auf über 6.000 Meter aufsteigen? Aber das verstärkte "Wasserlassen" in der Nacht soll ja ein Zeichen guter Akklimatisierung sein. Dann beim Frühstück die nächste Hiobsbotschaft: Plötzlich werden meine Finger steif. Zuerst die rechte, dann die linke Hand. Ich spüre nichts. Ich werde sehr nervös. "Zur Beruhigung" erzählt mir Miguel, dass einer Schweizerin vor einigen Jahren die Finger amputiert werden mussten, weil sie am Gipfel des Huayna Potosi zu lange die Handschuhe ausgezogen hat, um Fotos zu schießen. Erst nach 10 Minuten kommt wieder ein Kribbeln in meinen Fingern. Nach 15 Minuten ist alles wieder gut. "Kommt vor", sagt Miguel. Wir starten um 01:47 Uhr.
Mondlicht (01:45 Uhr) |
Die zwei Japanerinnen und der Deutsche, mit denen ich in Lager 2 übernachtet habe, müssen bei 5.500 Meter umkehren. Heftige Kopfschmerzen und Übelkeit zwingen sie dazu. Mir geht es prima. Ich sehe ein Flugzeug. Es scheint fast auf Augenhöhe zu sein.
Blick von 5.800m auf das leuchtende La Paz |
Der Sauerstoffgehalt von 21% bleibt zwar gleich. Aber durch den geringeren Sauerstoffpartialdruck sind in einem Atemzug weniger Gasteilchen enthalten. Dementsprechend muss man mehr Luft einatmen. Langsam gehen. Viele Pausen. Viel trinken. Trinken funktionierte allerdings nur die ersten zwei Stunden. Danach war meine Flasche eingefroren.
Miguel ist großartig. Im 5-Minuten-Takt bleibt er stehen und lauscht meiner Atmung. Ist sie zu schnell, warten wir so lange, bis sich mein Puls beruhigt. Ist sie normal, gehen wir weiter.
Der Gipfelgrat. Die letzten 88 Meter. Auf 6.000 Meter Höhe überlege ich 10 Minuten lang ernsthaft ans Umkehren. Die ultimative Herausforderung für jemand, der kein gutes Gefühl vor tiefen Abgründen hat. Dieser Grat: 10-20cm breit. Rechts: 300 Meter abwärts. Links: 800 Meter abwärts. Fast senkrecht. Das Annehmen des kalkulierten Risikos zwingt einen, sich selbst in Frage zu stellen. Ich prüfe meine körperliche und geistige Fähigkeit. Ich bin topfit. Ich führe Selbstgespräche, um mich auf jeden einzelnen Schritt zu konzentrieren.
Gipfelgrat |
Das Glück der letzten Schritte auf einen Gipfel, den man sich so lange gewünscht hat, ist nicht beschreibbar.
Der Moment, in dem ich den Gipfel erreiche. Miguel ist mit dem Sichern der Seile beschäftigt, schießt Fotos. Ich glaube, er sprach auch mit mir. Aber ich höre und sehe ihn nicht. Ich blicke auf den höchsten Punkt, setze mich darauf und beginne zu weinen. Wie viele Menschen haben mir zuvor gesagt: 'Mit Deiner Lunge schaffst Du das nicht. Du bist lebensmüde, wenn Du das riskierst.' Es gab nur einen Menschen, der an mich geglaubt hat: Ich.
Stärke wächst nicht aus körperlicher Kraft, sondern aus einem unbeugsamen Willen. Ausreichende Vorbereitung. Rationale Entscheidungen treffen. Kein blinder Ehrgeiz. Dieser Moment gehört mir allein - für immer. Der Geist wächst mit der Weite des Augenblicks.
Von oben holst Du Dir eine neue Perspektive des Lebens.
Sonnenaufgang um 06.30 |
Normale Gehzeit von Lager 2 (5.270m) bis zum Gipfel (6.088m): 6 Stunden. Ich und Miguel gingen um 01:47 Uhr los und erreichten in völliger Finsternis um 06:03 Uhr den Gipfel. Etwas über 4 Stunden. Ziemlich schnell. Aber noch langsamer zu gehen, wäre für mich fast unmöglich gewesen. Oben warten wir bei -17°C und eisigem Wind eine halbe Stunde auf den Sonnenaufgang. Um mich warm zu halten: Liegestütz, Handstand, und Ringen mit Miguel.
Handstand auf 6.088m |
Rechtzeitig zum Sonnenaufgang erreichen 1 Niederländerin, 1 Kanadier, 1 Schweizer und 2 US-Amerikaner den Gipfel. Nur 5 von insgesamt 14 Personen, die sich an diesem Tag den Gipfel zugetraut haben.
Schatten des Huayna Potosi auf den Titicaca-Lake |
Gipfelgrat |
Beim Abstieg erkenne ich das tatsächliche Ausmaß der beiden Abgründe links und rechts von mir. Ich konzentriere mich wieder: Dieser Gipfel gehört mir erst, wenn ich unten bin. Vorher gehöre ich ihm.
Nicht immer ist Platz für beide Stiefel...
In den Bergen findet man das, was man selber in sich hat. Während meines 4-stündigen Aufstiegs ist mein ganzes Leben an mir vorbei gezogen. Ich habe an meine Jugend gedacht. An meine Eltern. An meinen Bruder. An meine berufliche Karriere. An meine sportliche Karriere. An das, was ich geschafft habe. An das, was ich nicht geschafft habe. An die schönsten Momente. An die grauenvollsten Momente. Beim Abstieg gab es in meinem Kopf eine völlige Leere. Unfassbar was sich mental abspielt.
Wunderschön geschrieben, wunderschöne Fotos!
AntwortenLöschenIch war auch letztes Jahr am Huayna Potosi, obwohl alle Welt dachte (inklusive mir), ich hätte Höhenangst.
Danke. Und gratuliere! Beim 20cm breiten Gipfelgrat muss man wirklich schwindelfrei sein. Wunderschöner Berg, der mir viel beigebracht hat...
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